Vom 4. bis 7. August 2021 machten sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am 10. International Swiss Talent Forum Gedanken zu einem kontroversen Thema: Überwachung.

Das International Swiss Talent Forum fand im Konferenzzentrum Hotel Sempachersee statt.

Überwachung in all ihren Formen

Das Abenteuer beginnt im Konferenzzentrum Sempachersee in der Gemeinde Nottwil (Luzern). Die Spannung im Organisationsteam ist spürbar: Nach mehr als einem Jahr voller rein virtueller Veranstaltungen müssen sich alle erst einmal zurechtfinden. Um 13 Uhr steht der Willkommensstand bereits und die ersten Teilnehmenden trudeln mit ihrem Gepäck ein. Vier Tage lang werden sie sich intensiv mit einem brisanten Thema von globaler Relevanz beschäftigen: Überwachung.

Ein umfangreiches Thema – das aber in mehrere Aspekte, die so genannten «Challenges», unterteilt wurde. Die Jugendlichen werden in Teams aufgeteilt, die sich mit einer Challenge befassen und konkrete Lösungen erarbeiten sollen. Dabei werden sie von Coaches und einem Expertenteam aus führenden Schweizer Institutionen begleitet und lernen eine spezielle Methode. Eine zusätzliche Challenge: Die Veranstaltung wird auch Englisch durchgeführt.

 

  1. Privacy as Intellectual PropertyProf. Dr. Heinz Müller
  2. Evolving Healthcare Through Digital Trust and Data SharingDr. Fred Mpala
  3. The Ethics of Public Health Surveillance For Preventing Future PandemicsDr. Dr. Manuel Trachsel
  4. Purpose-limited Applications by DesignProf. Carmela Troncoso

 

Den Einstieg macht Prof. Francisco Klauser, Professor an der Universität Neuenburg und Spezialist für die Schnittstellen von Überwachung, Macht und sozialen Konstrukten: «Denken Sie nicht, Überwachung sei ein neutrales Konzept. Diese Technologien werden von Menschen hergestellt. Es ist daher unerlässlich, einen kritischen Ansatz zu entwickeln: Wer produziert die Daten, wer sammelt sie und welche Formen der sozialen Diskriminierung können auf diese Weise reproduziert werden?

Für Dario Ackermann, einen der Teilnehmer, war die Möglichkeit, sich objektiv mit der Überwachung auseinanderzusetzen, von besonderem Interesse: «Ich habe 1984 von George Orwell gelesen, und ich hatte eine sehr negative Einstellung zur Überwachung. Als ich von dem ISTF-Thema erfuhr, fand ich den Blickwinkel überraschend», betont er.

Der Vortrag von Prof. Klauser ist in vollem Gange. Er nennt mehrere Beispiele für erfolgreiche Überwachungsprojekte, darunter die Kameras, die in der Westschweiz zum Schutz von SexarbeiterInnen installiert worden waren. Die Ergebnisse waren jedoch gemischt: Übergriffe finden selten im öffentlichen Raum statt, sondern eher hinter verschlossenen Türen. Daher konnten die Kameras letztendlich kein Gefühl von Sicherheit vermitteln.

 

Die ISTF-Teilnehmenden erforschten die positiven und negativen Auswirkungen der Überwachung.

Zwischen Methode und verrückten Ideen

«Dies ist die ISTF-Methode. Sie werden einen ‹Berg› erklimmen und mehrere Zyklen durchlaufen», sagt Christina Stent, die seit über 20 Jahren als Kreativitätscoach Unternehmen und Einzelpersonen auf dem Weg zur Veränderung begleitet. «

Am zweiten Tag machten die Teilnehmenden eine Gruppenübung, die den Einstieg in die Arbeit erleichtern sollte. Die Coaches konnten ihnen mit verschiedenen Tipps und Instrumenten helfen, über den Tellerrand zu schauen. Für Dr. Julián Cancino, den Leiter des Projekts, ist dieser Ansatz eine der grössten Stärken des ISTF: «Im Rahmen dieses Think Tanks lehren wir eine Methode, die Teilnehmenden werden in die Wissenschaft eingeführt, müssen aber auch innovative Lösungen vorschlagen, indem sie anders denken.

 

Charleen Bretteville und Lucas Büsser, ehemalige ISTF- Teilnehmende, haben ihr Startup präsentiert.

Eine Methode, die sich bewährt hat: Charleen Bretteville und Lucas Büsser, zwei ISTF-Alumni, können dies bezeugen. Der kreative Prozess des Think Tank inspirierte sie zur Gründung ihrer eigenen Beratungsfirma visionauten. Sie bieten ihren Kunden «visionäre» Lösungen. Zu ihren Kunden gehörten bereits die Post, die Migros und das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation.

Einfallsreiche Lösungen

«Was ist der Unterschied zwischen einem Ingenieur und einem Naturwissenschaftler?  Der Ingenieur muss eine konkrete Antworten auf bestimmte Fragen vorschlagen, während die Forschung des Wissenschaftlers oft mit einer neuen Frage endet», erklärte Prof. Ralph Eichler, Präsident des Stiftungsrates, am letzten Tag der Präsentationen in einem humorvollen Ton, bevor er hinzufügte: «Im Rahmen des ISTF befinden wir uns auf halbem Weg zwischen diesen beiden Welten».

 

Die Teilnehmenden mussten einen zweiseitigen Aufsatz schreiben, in dem sie die Hauptargumente für ihre Lösung darlegen. Die Frist für die Einreichung der Beiträge endete am Freitagabend um Mitternacht. In diesem Jahr haben sich die Teilnehmenden selbst übertroffen. Für die juristische Challenge «Privatsphäre als geistiges Eigentum» mussten die Jugendlichen einen Vorschlag zur Vereinheitlichung der Gesetze über personenbezogene Daten machen. «Make Personal Data Personal Again» ist eine der beiden Lösungen, die vorgeschlagen wurden. Die Jugendlichen plädierten für ein Rechtssystem, in dem persönliche Daten Teil des geistigen Eigentums werden. Auf diese Weise könnten Einzelpersonen ihre Daten besser schützen oder sie gegen Bezahlung mit weitergeben.

Im Rahmen des vierten Wettbewerbs «Purpose-limited Applications by Design» schlug Darios Gruppe eine «ECO2-Karte» vor: Eine Debitkarte, die jedem Bürger zur Verfügung gestellt werden könnte und mit einer bestimmten Anzahl von Punkten pro Monat ausgestattet ist. Für jedes gekaufte Produkt würden Punkte abgezogen oder nicht, je nach desse ökologischer Bilanz.

Soft Skills und Teamgeist

 

Am ersten Abend assen die Teilnehmenden im Caribbean Village in Nottwil zu Abend. Auf dem Programm stand auch die Herstellung eines Vegi-Burgers.

 

«Einige Leute denken derzeit, dass wir mit dem Covid-19-Impfstoff Mikrochips injizieren. Was, wenn wir dies wirklich tun würden?”

Im Stil einer TedX-Rede werden die Teilnehmenden in ein spannendes, wenn auch dystopisches Szenario versetzt. In jener Welt wurde ein medizinischer Mikrochip vorgeschlagen, der die Leute andauernd über ihren Gesundheitszustand informieren würde: keine regelmässigen Arzttermine oder unnötigen Praxisbesuche mehr. Diese Erfindung würde das Ende der privaten Krankenversicherung bedeuten, da die Chips vom Staat kontrolliert werden würden.

Am letzten Tag mussten die Teilnehmenden die Ergebnisse ihrer Arbeit den anderen Gruppen in wenigen Minuten interaktiv und eindrucksvoll präsentieren. Um ihre rhetorischen Fähigkeiten zu schärfen, konnten sie während des ISTF auch an Schreib- und Erzählkursen teilnehmen.

Ausserdem wurden “Soft Skills”, wie zum Beispiel Teamfähigkeit, gefördert. Vor Beginn des ISTF hatten sich die meisten der Jugendlichen noch nie getroffen. Nun fanden sie ssich in 5er- oder 6er-Gruppen wieder:

«Es ist äusserst interessant zu beobachten, wie sich eine Gruppendynamik entwickelt. Einige übernehmen die Führung, andere sind eher zurückhaltend, aber es ist wichtig, dass wir alle zusammenarbeiten», sagte eine Teilnehmerin.

 

Der Wert des Zusammenseins

Um das Eis zu brechen hatte das Organisationsteam diverse Tricks auf Lager: Gruppenaktivitäten, selbstgemachte Burger im Caribbean Village in Nottwil oder eine Schnitzeljagd, bei der die Jugendlichen in die Rolle des Detektivs schlüpfen und ein Verbrechen lösen mussten.

«Ich fand, dass wir schnell Beziehungen aufbauen konnten. Etwas haben wir ja schonmal gemeinsam: Wir sind hier, weil wir Nerds sind – im positiven Sinne des Wortes – und wir sind offen für neue Leute und neue Ideen», erklärt Dario. «Diese Veranstaltung hat uns den Wert des ‹Zusammenseins› bewusst gemacht», stimmt Proektleiter Dr. Julián Cancino zu.

 

Swiss made

Das Beste am ISTF? Für Dr. Julián Cancino ist es die internationale Dimension: «Es gibt bereits internationale Wissenschafts-Olympiaden, aber hier schaffen wir einen neuen Raum, in dem junge Menschen diese Art von Austausch wiederfinden können. Der Think Tank bleibt jedoch in der Schweiz verankert, indem er mit Expertinnen und Experten von Schweizer Institutionen zusammenarbeitet: «Der ISTF ist ‘Swiss Made’ und stellt so auch eine Gelegenheit dar, die Stärke unseres Landes im Bereich der Innovation hervorzuheben», sagt er abschliessend.

Die Wissenschaft-Olympiade und Schweizer Jugend Forscht wollen enger zusammenarbeiten, um die Wirkung ihrer jeweiligen Angebote zu erhöhen und weitere Erfolgsgeschichten wie die von Dario Ackermann entstehen zu lassen. Er besuchte die Studienwoche «Fascination Informatics» von Schweizer Jugend Forscht, bevor er an der Philosophie- und Wirtschaft-Olympiade teilnahm und später  zum ISTF kam. «Ich habe an Begabungsförderungsprogrammen teilgenommen, weil ich Gemeinsamkeiten zwischen meinen Lieblingsthemen finden und vor allem andere Menschen kennenlernen wollte”. Bei jungen Menschen das Interesse an der Wissenschaft zu wecken oder zu festigen und Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen – diese Ziele teilen die beiden Organisationen SJF und WO.

 

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