Wie wird man eigentlich Forscherin oder Forscher? Entscheidet meine Studienwahl über den Rest meines Lebens? Was, wenn bei einem Experiment nichts rauskommt? Junge Menschen, die sich für eine wissenschaftliche Laufbahn interessieren, haben viele Fragen. Antworten erhielten sie am Marcel Benoist Workshop 2024 – direkt von den Gewinnerinnen und Gewinnern der Schweizer Wissenschaftspreise.
“Schreibt alle Fragen auf, die euch einfallen”, sagt eins der drei Mitglieder von Reatch – Research. Think. Change., die am 6. November den Marcel Benoist Workshop 2024 moderieren. “Ihr habt sieben Minuten Zeit.” Sofort schnappen sich die Teilnehmenden bunte Zettel und schreiben drauf los. Die rund 30 jungen Menschen, die sich an jenem Mittwochnachmittag im Kuppelraum der Universität Bern eingefunden haben, schliessen bald die Schule ab oder haben vor kurzem ein Studium angefangen. Zwei Drittel von ihnen waren am Finale einer Wissenschafts-Olympiade dabei oder sind Alumni von Schweizer Jugend forscht – oder gleich beides. Sie kommen aus verschiedenen Fächern, von Linguistik bis Chemie, doch sie teilen ein grosses Interesse an wissenschaftlicher Forschung. Seit 2021 veranstaltet die Marcel Benoist Stiftung einen Workshop rund um die Preisverleihung der Schweizer Wissenschaftspreise Marcel Benoist und Latsis, um diese jungen Talente in kleinen Gruppen ins Gespräch mit Spitzenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zu bringen.
Seit 1920 vergibt die Stiftung Marcel Benoist jedes Jahr einen Preis für herausragende, originelle und innovative Forschung, die für das menschliche Leben von Bedeutung ist. Ausgezeichnet werden etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Potenzial für weitere aussergewöhnliche Forschung haben. Das Preisgeld beträgt 250‘000 Franken. 2024 geht der Preis an Pascal Gygax von der Universität Freiburg. Er erforscht, wie Geschlechterstereotype mit Sprache zusammenhängen. Mehr erfahren.
Der mit 100’000 Franken dotierte Schweizer Wissenschaftspreis Latsis honoriert besondere Leistungen in der Grundlagenforschung. Er geht an eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler im Alter von maximal 40 Jahren, deren Arbeit durch Eigenständigkeit und hohe Qualität überzeugt. EPFL-Professorin Mackenzie Mathis ist dieses Jahr die Preisträgerin. Die Neurowissenschaftlerin entwickelt KI-Algorithmen, die in der Forschung verwendet werden können, beispielsweise wenn Lernprozesse an Modellorganismen wie Mäusen untersucht werden. Mehr erfahren. 2023 ging der Preis an die EPFL-Professorin Lesya Shchutska, die in der Teilchenphysik tätig ist. Sie war beim Marcel Benoist Workshop 2024 ebenfalls dabei. Mehr erfahren.
Grosse Fragen, kleine Schritte
“Was, wenn das Standardmodell der Teilchenphysik widerlegt würde?”, fragt SJf-Alumnus Dimetri die Teilchenphysikerin Lesya Shchutska. “Das wäre aufregend!”, antwortet diese mit einem Lächeln. “Das würde unser Leben so viel interessanter machen. Es ist sehr langweilig, eine Theorie zu haben, die immer stimmt.” Aktuell erkläre das Standardmodell aber alle Messungen. Woher die nächste grosse Entdeckung in der Teilchenphysik kommen wird, lässt sich nicht vorhersagen. Auf jeden Fall sollte man nicht mit der Erwartung in die Wissenschaft einsteigen, dass man die Disziplin direkt auf den Kopf stellen wird: “Überall, nicht nur in der Wissenschaft, steht am Anfang eine grosse Frage”, so Shchutska. Doch die grosse Frage könne man nicht alleine beantworten. Also suche man sich eine kleinere Frage, an der man arbeiten kann.
Man müsse sich für die kleinen Schritte begeistern können, findet auch Mackenzie Mathis. Sie findet es jedes Mal wieder aufregend, Mäusen beim Lernen zuzuschauen, wenn diese “mäusetaugliche” Videogames spielen. Was dabei im Gehirn passiere, sei nicht so anders als bei Menschen. Die gesammelten Daten können dann zum Beispiel verwendet werden, um eine KI zu trainieren. Im Gegensatz zu “ChatGPT” könne man KI für die Hirnforschung eben nicht einfach mit dem Internet füttern, antwortet Mathis auf die Frage eines Teilnehmers nach den Grenzen von KI in der Neurowissenschaft. Sie sieht die Grenzen daher in der Verfügbarkeit von Daten, nicht in der Entwicklung von Algorithmen.
“Alle Disziplinen hängen zusammen!”
“Ich fand es eindrücklich, wie Leute aus sehr verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten”, erzählt Geographie-Olympionikin Lina über das Gespräch mit Mackenzie Mathis. Informatiker, Mathematikerinnen, Tierärzte, Statistikerinnen: Die Neurowissenschaft ist so interdisziplinär wie die Workshopteilnehmenden. “Dass wir alle hier aus vielen verschiedenen Disziplinen sind und uns alle verstehen, hat mir die Augen geöffnet. Alle Disziplinen hängen zusammen!”, so die Genfer Chemiestudentin Hélène. Der Austausch mit Mackenzie Mathis habe ihr die Sorge genommen, dass sie sich jetzt schon für nur eine einzige Disziplin entscheiden müsse. Mathis selbst hatte im College vor, Chirurgin zu werden, bevor der Kontakt mit Patienten mit Motoneuronenerkrankungen sie inspirierte, in die Neurowissenschaft zu gehen.
“Wer von euch möchte denn Neurowissenschaftlerin werden?”, fragt Mathis in die Runde. Die Hand der SJf-Alumna und Biologie-Olympionikin Anna, die durch ein Praktikum schon erste Erfahrungen in der Disziplin sammeln konnte, schiesst sofort in die Höhe. Ob Mathis selbst in ihrem Alter auch schon so entschieden die Hand gehoben hätte? Sie hatte schon früh ein Interesse an Wissenschaft – einst gab sie ihr gespartes Taschengeld für ein Mikroskop aus. Doch die Latsis-Preisträgerin erzählt auch, dass sie lange nicht wirklich gewusst habe, was es bedeutet, Wissenschaftlerin zu sein. Jetzt, wo sie es weiss, teilt sie ihre Erfahrungen gerne. Zum Beispiel mit einem kurzen Exkurs über die Beantragung von Forschungsgeldern.
“Du hast Fragen und willst Antworten finden.”
Auch Pascal Gygax gibt Einblicke in den akademischen Betrieb. Der Psycholinguist äussert sich dabei durchaus auch kritisch über verstaubte Hierarchien und die Herausforderungen bei der Suche nach finanziellen Mitteln. Angehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern empfiehlt er, auch in einen Plan B zu investieren. “Man sollte nicht Professor werden, um Professor zu werden”, rät Gygax, “sondern weil diese Neugier, die man als Kind über das Leben hatte, noch da ist. Das ist alles. Du hast Fragen und willst Antworten finden.” Die Möglichkeit, sich selbst Fragen zu stellen und diese dann zu beantworten und dabei immer dazuzulernen, habe man nicht in vielen Berufen. Gygax erzählt, wie er sich einmal mit einem Kollegen über einen Match unterhielt, bei dem ihnen das Verhalten des Schiedsrichters rassistisch vorkam. Zwei Wochen später reichten sie einen Forschungsantrag ein und am Ende stand eine Publikation über Rassismus im Sport.
Gygax interessiert sich dafür, wie Sprache mit impliziten Vorurteilen zusammenhängt. Wie es beispielsweise unser Denken beeinflusst, wenn immer die männliche Form verwendet wird. Diese Forschung löst auch negative Reaktionen aus – laut Gygax vor allem bei Menschen, die wenig über sein Vorgehen wissen.. “Wir publizieren nur, was die Daten zeigen”, erklärt er. Gygax ist auch schon der Behauptung begegnet, die Psychologie sei “keine richtige Wissenschaft”. Dabei lege diese grossen Wert darauf, empirisch vorzugehen. Studierende sind immer wieder überrascht von den vielen Statistik- und Methodenkursen im Psychologiestudium.
Weitsicht statt Tunnelblick
Auch für persönliche Fragen nehmen sich die Preisträgerinnen und Preisträger Zeit. Auf die Frage von Biologie-Olympionikin Leora, wie er vom Preis erfahren habe, erzählt Gygax mit viel Humor, wie er den Anruf von Guy Parmelin erst für einen Streich hielt. Lesya Shchutska , die mit ihrem kleinen Baby im Arm zum Workshop gekommen ist, wird von SJf-Alumna Nancy auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angesprochen. Sie erzählt, wie sie während des Mutterschaftsurlaubs den Kontakt zu ihrer Forschungsgruppe hält. Leora erzählt, es habe sie zuerst überrascht, dass Shchutska ihr Baby dabei hatte: “Das hat mir gezeigt: okay, Familie und Wissenschaft ist auch möglich.” Was Leora vor allem vom Workshop mitnimmt, ist die Empfehlung, keinen Tunnelblick zu entwickeln, sondern neugierig zu bleiben und sich in verschiedenen Bereichen weiterzubilden. Nicht zuletzt bleibt auch eine gewisse Gelassenheit zurück: “Man muss nicht von Anfang ein Ziel haben. Das wird schon.”
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