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Clara Köhnlein, 2003 | Basel, BS

 

Im Mai 1944 stirbt ein 26-jähriger Wehrmachtssoldat auf einem kleinen Schiff im Schwarzen Meer. Alles was heute noch von ihm übrig ist, sind seine runde Brille und eine kleine, silberne Dose, darin eine Handvoll Briefe, Fotografien und zwei Taschenkalender. In dieser Arbeit wurden diese Dokumente, die zum Grossteil aus den Jahren 1943 und 1944 stammen, ausgewertet: Wer war der junge Wachtmeister? Wo war er zu der Zeit? Was hat ihn beschäftigt? Wie sah sein alltägliches Leben aus? Und wie sein Sterben?

Fragestellung

Die Arbeit orientiert sich grundsätzlich an der Leitfrage: Inwieweit ist es trotz des sehr beschränkten Umfangs der Originalien möglich, sich ein aussagekräftiges Bild von den damaligen Verhältnissen, insbesondere vom Alltags des Wachtmeisters Richard Bertsch zu verschaffen?

Methodik

Um die Informationen aus den in Sütterlin verfassten Feldpostbriefen herausarbeiten zu können, war es zunächst nötig, sie zu transkribieren. Nach der Kategorisierung aller aussagekräftigen Textstellen in Themenbereiche wurde der kleine Fundus von Originalien durch Zeitzeugengespräche und Angaben aus Archiven ergänzt. Diese Informationen wurden im Anschluss mit denen aus der Sekundärliteratur abgeglichen und Lücken wurden durch literaturgestützte Hypothesen gefüllt.

Ergebnisse

Das Ergebnis dieser Arbeit setzt sich aus vielen Einzelerkenntnissen zusammen, die sich weder quantifizieren noch allgemein zusammenfassen lassen. In vier einleitenden Kapiteln wurden die Originalien historisch und geografisch kontextualisiert und die Person des Wachtmeisters, meines Urgrossonkels Richard Bertsch, ergründet. In den fünf Hauptkapiteln wurden ausgewählte Themen anhand vieler Informationsbruchstücke aufgearbeitet und diskutiert:
Die Funktion der Feldpost auf organisatorischem Niveau wurde ebenso behandelt wie ihre Wichtigkeit als emotionale und sogar materielle Stütze für die Soldaten wie auch für die Angehörigen in der Heimat. Richards Darstellungen zu den Umständen des alltäglichen Lebens wurden hinsichtlich einer allfälligen Selbstzensur mit der Literatur abgeglichen. Ein Kapitel widmet sich dem Thema Fronturlaub; hier konnten nicht nur die allgemeinen Formalien, sondern auch konkret die Reiseroute Richards nachvollzogen werden. In einem weiteren Kapitel wurde die Religion und der (neuapostolische) Glaube zur Zeit des NS-Regimes und seine Funktion als Resilienzfaktor für Frontsoldaten beleuchtet. Abschliessend wurde das soldatische Verhältnis zum Tod und schliesslich Richards eigener Tod aufgearbeitet.

Diskussion

Es war trotz des beschränkten Umfangs der Originalien durchaus möglich, sich ein Bild von der soldatischen Lebensrealität der damaligen Zeit zu machen. Dieses Abbild ist jedoch mehr ein persönliches als ein allgemein repräsentatives: Mein familiärer Bezug und die emotionale Bindung, die man zwangsläufig aufbaut, wenn man sich so intensiv mit einer Person auseinandersetzt, (ver-)führen zu einer subjektiven Lesart der Dokumente. Es muss hierbei auch angemerkt werden, dass die verwendeten Quellen nicht nur quantitativ beschränkt waren: Der Briefwechsel ist nur einseitig erhalten und auch direkte Zeitzeugen fehlen, wodurch der Grossteil der Informationen aus Zeitzeugengesprächen aus zweiter Hand stammt. Es war explizit nicht Ziel dieser Arbeit, ein repräsentatives Abbild zu erstellen – dafür hätte ein anderer Forschungsansatz gewählt werden müssen.

Schlussfolgerungen

Die Arbeit konnte auf mehreren Ebenen einen Lebensabschnitt meines vor 78 Jahren gefallenen Urgrossonkels darstellen und dabei punktuell eine unerwartete Tiefe erreichen. Gleichwohl bleiben am Ende zahlreiche Detailfragen offen, die wohl auch nicht mehr beantwortet werden können. In einem weiteren Schritt wäre es sicherlich interessant, die Briefe in einen grösseren Kontext zu bringen und dadurch ihre Repräsentativität zu überprüfen. Auch ein Vergleich mit den Briefen von Soldaten anderer Nationen aus dem Zweiten Weltkrieg oder mit der Kommunikation zwischen Soldaten und der Heimat heutzutage wären Fragestellungen, denen sich weitere Forschungsvorhaben widmen könnten.

 

 

Würdigung durch die Expertin

Christine Stuber

Die Autorin untersucht Feldpostbriefe aus dem Nachlass ihres Urgrossonkels, der als deutscher Soldat an der Ostfront stationiert war. Aus deren Analyse  gelingt es der Autorin, ein erstaunlich persönliches Bild vom Lebensalltag und auch von der Gedankenwelt eines gläubigen Christen, der als Frontsoldat seinen Dienst erfüllte, zu schaffen. Die historisch lückenhafte Dokumentation ergänzt sie mit den Erkenntnissen neuester Forschung zum Thema. Die Arbeit überzeugt durch die wissenschaftliche Genauigkeit und präzise Differenziertheit, mit der die Ergebnisse präsentiert und kritisch kommentiert werden.

 

Prädikat:

sehr gut

 

 

 

Gymnasium Leonhard, Basel
Lehrerin: Ursina Fehr